Titel: Weiblichkeit im Aufbruch | Autorin: Nora Amin | Übersetzerin: Max Henninger | Verlag: Matthes&Seitz
Wie bewegen sich Frauen in der Öffentlichkeit? Wie kommt es, dass man sich zu Hause vor dem Spiegel noch schön fand, sobald man draußen ist sich aber seltsam fühlt, falsch angezogen, hässlich? Wie trägt die Öffentlichkeit dazu bei Frauen und ihre Körper zu „zähmen“ und ihnen „ihren Platz zuzuweisen“?
Diesen Fragen und weiteren geht Nora Amin in ihrem kurzen Essay Weiblichkeit im Aufbruch nach. 2015, als sie dieses Essay schreibt, sind die Massenvergewaltigungen auf dem Tahrir Platz in Kairo zwei Jahre her, der sog. Arabische Frühling in Ägypten vier Jahre. Sexuelle Übergriffe sind zwar im Rückgang, aber immer noch allgegenwärtig. Der Spiegel bezieht sich auf eine Uno Studie, laut der 99% der ägyptischen Frauen mindestens einmal von sexueller Belästigung betroffen waren, und laut der Thomson Reuters Stiftung gilt Kairo als die gefährlichste Großstadt für Frauen.
Doch nicht nur in Ägypten werden Frauen in der Öffentlichkeit als Objekte betrachtet. In westlichen Gesellschaften sieht es nicht anders aus. Und Amin schafft es auf eine Weise, über weibliche Körperlichkeit zu sprechen, die nicht für Ägypten gilt.
Nora Amin berichtet, wie wohl sie sich auf der Bühne fühlt, denn dort kann sie „ein Leben führen, über das ich draußen nicht verfüge“ (S. 3) Im Privaten können sich Körper und Körperlichkeit frei entfalten, ganz ohne Bewertungen anderer Menschen. Sobald sich eine Frau außerhalb ihres Hauses bewegt, wird ihr eine Identität zugeschrieben, „wir werden zu dem Selbst, das uns sie anderen Aufzwingen“ (S. 7), mehr noch: „Ich bekomme eine gesellschaftliche Weiblichkeit, die ich nie selbst gewählt habe, und mit ihr meine soziale Identität.“ (S. 3)
Weiblichkeit im öffentlichen Raum ist immer der Bewertung und Projektion von anderen ausgesetzt. Frauen werden gesellschaftliche Rollenideen aufgezwungen, der Körper den „Definitionen von Identität, die in jeder Gesellschaft gelten, in der der Körper sich bewegt“ unterworfen. „Auch durch die zahlreichen Codes, die mit den Einstellungen der Öffentlichkeit einhergehen, wird Identität reguliert.“ (S. 7) Die Identität, die sich im Privaten und allein entwickelt, wird in der Öffentlichkeit von den zugeschriebenen Identitäten und Bewertungen beeinflusst.
Dadurch, dass wir uns dessen bewusst sind, ob nun wissentlich oder nicht, verändern wir uns, wenn wir das Haus verlassen, denn dann sind wir von anderen umgeben. Wir versuchen wir uns dementsprechend zu verhalten: „Meine Augen dürfen nichts projizieren, ich darf keinen Kontakt aufnehmen.“ (S. 5) Wir wollen keine Belästigung, keinen Übergriff provozieren, und können doch nichts gegen die penetrierenden Blicke tun. Als Frauen sind wir nonverbalen, verbalen und physischen Übergriffen permanent ausgesetzt oder müssen in permanenter Erwartung derer leben. Unsere Identität wird also nicht nur von anderen beeinflusst und manipuliert, wir selbst passen uns an um uns möglichst gefahrlos und akzeptiert in der Öffentlichkeit bewegen zu können.
Es gibt kein Fazit. Das Essay ist einfach eine Schilderung und Analyse der aktuellen Situation von Frauen im öffentlichen Raum – und diese Analyse ist so treffend, dass es eine schallende Ohrfeige für diejenigen ist, die der Meinung sind, Frauen würden sich ja nur etwas anstellen, Blicke und Pfiffe seien Komplimente und keine unangenehmen Erfahrungen, und insgesamt würden wir die Lage völlig übertreiben. Nein, tun wir nicht.
Das klingt unglaublich spannend!
*Essay-Suchgeräusche*
Toll, dass du dich so mit feministischer Literatur auch am Rand des Kanons beschäftigst und uns so alle darüber stolpern lässt!
Hahaha, das ist manchmal gar nicht so einfach. Die Literaturlisten auf der ersten Google-Seite zum Thema Feminismus geben nur die Bücher her, die ich letztes Jahr schon besprochen habe und inzwischen in allen Köpfen sind. Weiblichkeit im Aufbruch war ein Zufallsfund, als ich nach Feminismus in Ägypten gegoogelt, also meinem Ägypten Crush nachgegeben habe 😀
Ich hoffe, ich lasse euch noch ein paar mal mehr stolpern 🙂