[Rezension] Denkfabrik – Verbündet euch!

[Rezension] Denkfabrik – Verbündet euch!

Titel: Denkfabrik – Verbündet euch! Für eine bunte solidarische Gesellschaft | Hg.: Denkfabrik | Verlag: Edition Nautilus
Vielen Dank für das Rezensionsexemplar!

Einen richtigen Tiefschlag hatte ich nach einem Autorentreffen zu einem anderen Buch. Das Buch ist gut, sehr gut sogar, und so wahr – und so deprimierend. Ich konnte damit nicht umgehen und begab mich mehr oder weniger in politischen Winterschlaf. Einzig mein feministischer Lesekreis Patriarchat Kielholen (und die sehr motivierte Untergruppe Meuterei, die immer noch ein zweites Buch liest) und die Menschen dort hielten mich über Wasser.

In diesem Lesekreis fand ich schließlich auch die Kraft, Verbündet euch! von der Denkfabrik zu lesen, das mir von Edition Nautilus freundlicherweise als Rezensionsexemplar überlassen wurde. Im Nachhinein denke ich, ich hätte das Buch früher lesen sollen. Gleich zu dem Zeitpunkt, als es mir mit meinem politischen Leben so schlecht ging. Auf der anderen Seite hat jedes Buch seine Zeit, und offenbar war die Zeit für Verbündet euch! erst später im Jahr.

Dafür hat es jetzt das Prädikat „Startet rostigen Politikmotor neu“.

Worum geht es?

Die Denkfabrik gehört zur SPD. Sie soll ein Raum sein, „in dem Sozialdemokrat*innen ungeschminkt und abseits der Schnelligkeit von Tagespolitik diskutieren können.“ Nun haben Sie im März 2021 einen Sammelband von Essays zu verschiedenen politischen Themen herausgegeben. Was diesen Band aber so besonders macht, ist, dass die Texte eben nicht nur aus der SPD stammen und somit von Kritiker*innen vielleicht als Propaganda-Schrift oder Wahlkampfbuch verurteilt werden kann. Die Autor*innen dieser Essays kommen aus SPD, Linke, Grüne, sind Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Journalist:innen, sind. Diese Bandbreite an Feldern, in denen sich die Autor*innen betätigen, bringt eine ebensolche Bandbreite an Texten und Meinungen mit sich. Nicht immer lassen sie sich vereinen, aber die Richtung ist klar: ein progressives Umdenken in der Politik, was Zusammenleben, gesellschaftliche Gerechtigkeit, Umweltschutz, nationale, internationale und Gesellschaftspolitik angeht. Denn dass sich etwas ändern muss, darin sind sich alle einig.

Wie war es?

Der Haken an Essaybänden ist, dass man selten mit allen Beiträgen etwas anfangen kann, und so ist es auch hier.

Beeindruckt hat mich der Text von Jakob Springfeld, Klimaaktivismus auf allen Ebenen und wie daraus eine neue Utopie entsteht. Dieser Text ist meiner Meinung nach einer stärksten im ganzen Band, denn Springfeld spricht nicht nur davon, dass “unsere Ideen, Wünsche und Träume […] kollektiv geworden” seien. Er fragt auch: “Was ist falsch an Utopien? Ich frage mich, seit wann es falsch ist, groß zu denken und Träume zu haben.” Für mich legt er damit den Finger in eine schwelende Wunde. Die Herabsetzung der Utopie als naiv, träumerisch, realitätsfremd ist inzwischen tief in die Gesellschaft gesickert. Jede Idee für einen anderen Weg, eine Veränderung in der Gesellschaft, eine andere Zukunft wird sofort mit dem Argument, dass die Umsetzung nicht realistisch sei, sofort im Keim erstickt. Warum? Springfeld erkennt ganz richtig, dass “politische Entscheidungen […] auf Grundlage von Machterhaltungsstrategien getroffen” werden.
Zugegeben, für Leute, die schon lange gesellschaftspolitisch aktivistisch unterwegs sind, sind seine Erkenntnisse vermutlich nicht neu. Aber die Wucht, mit der seine Argumente vorträgt, reißt einen aus der Polit-Lethargie und Resignation. 

Sehr lesenswert ist auch das Essay von Dietmar Bartsch, Das soziale Europa ist eine linke Idee. Zum Frieden zählt auch der soziale Frieden, so eine schlüssige These. In seinem Essay spricht Bartsch von Armut, wie sie zustande kommt, wie sie sich in den letzten Jahren entwickelt hat – und fragt auch ganz kritisch seine eigene Partei, warum sie “nicht mehr erste Adresse für Protest sind”. 

In den Essays gibt es Forderungen nach einer feministischen Verkehrspolitik (Sven-Christian Kindler, Verkehrswende – Eine Frage der Gerechtigkeit), es gibt fragen an eine linke, solidarische Finanzpolitik (Michael Schrodi, Das ist nicht radikal, sondern vernünftig und gerecht: Finanzpolitik ist Gesellschaftspolitik). 

Es werden aber auch weiter neoliberale Vorstellungen bedient, wenn Lisa Paus von Aufstiegsmobilität schreibt. Die sei bei den unteren Schichten zum Erliegen gekommen. Die Frage muss nicht lauten, wie man die Schichten wieder durchlässiger machen kann, sondern wie jeder Mensch ein selbstbestimmtes Leben auch unabhängig von Arbeit führen kann, ohne Existenzängste haben und gesellschaftliche Stigmata erdulden zu müssen. 

Verbündet euch! ist ein Essayband, der mich noch lange begleiten wird. Den ich immer wieder zur Hand nehmen und darin lesen, meine Markierungen anschauen und neu bewerten werde. 

Ist das eine Kaufempfehlung? Nein. Es ist eine “Kauf das Buch, lies es, nimm es dir zu Herzen und gib es nicht wieder her”-Empfehlung!

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4 thoughts on “[Rezension] Denkfabrik – Verbündet euch!

  1. Vielen Dank für deine Besprechung, vielen Dank für den Hinweis auf das Werk. Gern habe ich von Nautilus schon Laurie Penny gelesen, früher – ich weiß gar nicht, ob es die Reihe noch gibt – auch die Streitschriften bei Ullstein z.B. ‹Engagiert euch› von Stéphane Hessel.

    Das von dir ausgewählte Zitat: ‹Die Herabsetzung der Utopie als naiv, träumerisch, realitätsfremd ist inzwischen tief in die Gesellschaft gesickert. Jede Idee für einen anderen Weg, eine Veränderung in der Gesellschaft, eine andere Zukunft wird sofort mit dem Argument, dass die Umsetzung nicht realistisch sei, sofort im Keim erstickt.› ist etwas, das auch Rutger Bregman in seinem Buch ‹Utopien für Realisten› thematisiert und das ich beim Lesen damals schon sehr zutreffend fand, die Mehrheit scheint im Hier und Jetzt gefangen, nicht unbedingt weil es gefällt oder so gemütlich ist, sondern weil die Fähigkeit zum Träumen verloren ging, die Zeit fehlt, die Kraft – dennoch bin ich davon überzeugt, das ohne das Träumen und ohne die Utopien das Ende trist und bald kommt. Leider ist Nautilus als E-Book nicht in der Onleihe zu haben, aber ich gönne dem Verlag auch den Umsatz, den ich ganz sicher bringen werden.

    P.S. Wenn auch schon Jahre her, wollte ich deinen Beitrag https://www.crowandkraken.de/projekt-armut-in-deutschland-wer-ist-arm/ eigentlich als Anlass nehmen, Kontakt aufzunehmen und ungelogen (!) seit anno dazumal auf dem Pilie of Shame der Aufgaben. Alles Gute!

  2. Vielen Dank für deine Besprechung, vielen Dank für den Hinweis auf das Werk. Gern habe ich von Nautilus schon Laurie Penny gelesen, früher – ich weiß gar nicht, ob es die Reihe noch gibt – auch die Streitschriften bei Ullstein z.B. ‹Engagiert euch› von Stéphane Hessel.

    Das von dir ausgewählte Zitat: ‹Die Herabsetzung der Utopie als naiv, träumerisch, realitätsfremd ist inzwischen tief in die Gesellschaft gesickert. Jede Idee für einen anderen Weg, eine Veränderung in der Gesellschaft, eine andere Zukunft wird sofort mit dem Argument, dass die Umsetzung nicht realistisch sei, sofort im Keim erstickt.› ist etwas, das auch Rutger Bregman in seinem Buch ‹Utopien für Realisten› thematisiert und das ich beim Lesen damals schon sehr zutreffend fand, die Mehrheit scheint im Hier und Jetzt gefangen, nicht unbedingt weil es gefällt oder so gemütlich ist, sondern weil die Fähigkeit zum Träumen verloren ging, die Zeit fehlt, die Kraft – dennoch bin ich davon überzeugt, das ohne das Träumen und ohne die Utopien das Ende trist und bald kommt. Leider ist Nautilus als E-Book nicht in der Onleihe zu haben, aber ich gönne dem Verlag auch den Umsatz, den ich ganz sicher bringen werden.

    P.S. Wenn auch schon Jahre her, wollte ich deinen Beitrag https://www.crowandkraken.de/projekt-armut-in-deutschland-wer-ist-arm/ eigentlich als Anlass nehmen, Kontakt aufzunehmen und ungelogen (!) seit anno dazumal auf dem Pile of Shame der Aufgaben. Alles Gute!

    1. Moin!
      Echt? Seit vier Jahren wartet der Kontakt auf deiner To Do Liste schon? 😀 Aber hey, ich habe da auch den ein oder anderen Punkt, den ich so langsam mal zur Grundschule anmelden könnte…

      Utopien für Realisten kenne ich gar nicht, das gucke ich mir mal direkt an. Mich nervt es tatsächlich sehr, dass Utopien so belächelt werden. Allerdings ist das auch eine eher jüngere Entwicklung. Erinnerst du dich noch an den Dystopie-Boom nach The Hunger Games? Auf einmal bekamen die Leute von Dystopien nicht mehr genug. Ich weiß gar nicht, ob ich darüber schonmal irgendwo geschrieben habe, aber ich hatte es auf jeden Fall vor…

      Hm, ich hatte Edition Nautilus schon in der Onleihe, aber ich glaube, sie haben einfach nicht alles. Ein Skandal, wenn du mich fragst 😀

      Viel Spaß auf jeden Fall beim Lesen. Vielleicht können wir darüber ja mal diskutieren, wenn du dabei oder durch bist.

      Cheerio
      Mari

  3. Ja, ich weiß, es ist eigentlich ganz schön peinlich. Ich weiß, um ehrlich zu sein, auch nicht mehr wie ich auf den Beitrag gestoßen bin, ich wollte dich aber irgendwie für @sorgeweniger dazu ansprechen. Um ehrlich zu sein, ich bin gerade dabei Tabula Rasa mit so einigem zu machen. Über die Jahre hat sich einfach so viel angehäuft. Aber was sind hinsichtlich der weltweiten Krisen auch vier Jahre? Die Zäsur bei mir war die Sterbebegleitung meiner Mum, ihr Tod und dann direkt die Pandemie und diese ganze Zeit ist im Rückblick einfach nur skurril und fühlt sich stellenweise wie ein Traum an.

    ‹Utopien für Realisten› war das Debüt, im Grunde eine Sammlung seiner Beiträge auf decorrespondent.nl die auch die niederländische Ausgabe herausgebracht haben. Es ist einfach, in beiden seiner Bücher, so viel Wissen, so viel Recherche enthalten, geballte Faktenladung – das finde ich beeindrucken, ähnlich beeindruckt war ich aus selbem Grund auch von ‹Unsichtbare Frauen›.

    Was den Boom der Dystopien angeht, hast du recht, aber (ja, ein fettes aber!) es sind eben alles eher so Endzeitgeschichten die zudem häufig von einer Abstraktion geprägt sind, insb. vieles aus den USA mit dem großen ‹Gut gegen Böse› und natürlich einer megamäßigen Heldenfigur. Das was danach kam, war oftmals ein Abklatsch von Panem und auch Panem war im ersten Buch noch Okay, hat mich aber in Buch 2 und 3 echt angeödet irgendwie. The Circle wurde als ‹1984 unserer Zeit› gefeiert, aber im Grunde viel zu nah dran und beim besten Wille nicht mit 1984 zu vergleichen, wie ich finde. Da kam jetzt auch ein Nachfolger, den ich mir mal antun wollte, eventuell.

    Ich lese momentan noch ‹Patriarchat der Dinge› zu Ende und könnte mir im Anschluss ‹Verbündet euch!› gut vorstellen, vielleicht hole ich auch noch mal Stephane Hessel raus und einen Byung-Chul Han um wieder weiter zu kommen – seine ‹Psychopolitik› hat es mir sehr angetan. Eine gute Debatte, ein guter Austausch – da bin ich gern dabei, es würde mich wirklich freuen. Liebe Grüße!

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