Gamification beim Lesen: Goodsreads Leseabzeichen

Tablet mit geöffneter Goodreads App auf der Seite der aktuellen Leseabzeichen, daneben eine Tasse Kaffee

Gamification erreicht inzwischen nahezu alle Bereiche unserer Freizeit. Ob Stempelkarten im Café oder Login-Streaks beim Sprachenlernen, wir können sie überall sehen. Im Lesebereich ist sie schon sehr lange angekommen mit Lesechallenges – quantitativ oder nach Themen -, Bingos und Readathons.

Jetzt gibt es ein neues Gimmick: zeitlich begrenzte Challenge-Abzeichen, die Reading Challenge Achievements auf Goodreads. Heißt: man muss eine Aufgabe innerhalb eines bestimmten Zeitraums erfüllen. Heute enden die aktuellen Lese-Challenges, bevor morgen die ersten des neuen Abschnitts veröffentlicht werden. Ich freue mich schon auf die neuen Aufgaben, auch wenn ich vom aktuellen Abschnitt vier nicht geschafft habe, was unter anderem daran liegt, dass ich diese Woche beschlossen habe, lieber Spaß als Abzeichen haben zu wollen.

Da sind wir schon beim Hasen im Pfeffer: Die Challenges sind toll, aber nicht alles ist positiv, und manche Aspekte fallen erst nach dem zweiten oder dritten Blick auf.

Lesehorizont erweitern

Neben klassischen Aufgaben wie “Lies x Bücher in Zeitraum y” wird der Fokus der Goodreads Lesechallenges oft aktuelle Themen gelegt wie den Black History Month, Pride Month oder auf AAPI (Asian American and Pacific Islanders) Autor*innen. Auch Ausflüge in bestimmte Genres wie Historische Romane und Romance gehören zu den Themen. Die Challenges können also durchaus helfen, den eigenen Lesehorizont zu erweitern und Bücher außerhalb der Komfortzone zu lesen, gerade wenn man eigentlich auf ein, zwei Genres beschränkt ist.

Persönlich lese ich erstmal alles, was mir vor die Nase kommt und halbwegs mein Interesse weckt. Vermutlich ist mein SuB deswegen so unfassbar voluminös. Trotzdem habe ich durch die Challenges ein Buch gelesen, dass ich sonst vermutlich links liegen gelassen hätte, und andere Bücher auf meinem SuB, um die ich mich drücke, stehen jetzt auf meiner “Bis Ende des Jahres lesen”-Liste.

Begrenzte Auswahl an Büchern

Tablet mit geöffneter Goodreads App auf der Seite einer Bücherliste, daneben eine Tasse Kaffee

Für die Challenges gelten jeweils nur bestimmte Bücher, die in eigens dafür erstellten Artikeln gelistet sind. Selbst wenn das Thema etwas so allgemeines ist wie “Lies einen Thriller”, zählen nur die Bücher in besagten Artikeln.

Es sind allerdings nur Bücher vertreten, die auf Englisch bzw. in englischer Übersetzung erscheinen. Man ist also auf eine Auswahl von Büchern beschränkt und kann nicht völlig frei wählen. Wenn ich also einen deutschen historischen Roman lese, der nicht auf der Liste der qualifizierenden Bücher steht, habe ich, was die Challenge angeht, schlichtweg Pech gehabt.

Es ist unter dem Gesichtspunkt der Internationalität natürlich nachvollziehbar, denn mit englischen Büchern stellt man sicher, dass so viele Menschen wie möglich die Bücher lesen können. Trotzdem ist es schade, dass gerade bei Büchern, die für allgemeingehaltene Challenges wie “Lies einen Thriller” nur die Listen gelten. Alle Bücher, die in den Goodreads-Katalog aufgenommen werden, haben Tags, unter denen auch die Genres aufgezählt werden, in die sie einsortiert wurden. Warum können also nicht auch Bücher gelten, die einen passenden Tag haben? So würden Autor*innen, die nicht übersetzt werden, nicht aus den Leseplänen der Community ausgeschlossen werden.

Ich habe noch eine weitere Vermutung, warum ausschließlich englischsprachige Bücher vorgeschlagen werden, aber dazu unten mehr.

FOMO on Fleek

Neben der begrenzen Anzahl an Bücher gibt es auch psychologische Auswirkungen. FOMO (Fear Of Missing Out; Die Angst, etwas zu verpassen) herrscht in der Lesebubble schon seit Jahren stark vor. Das war schon zu den Hochzeiten von Bookstagram so, durch Booktok erreicht es aber ein völlig neues Level. Ob Bücher, die man “einfach gelesen haben muss”, obwohl man noch 100 auf dem Stapel hat aber jetzt eben jede*r drüber redet, oder Limited Editions, die auf so wenig Exemplare begrenzt sind, dass man am besten vor den Buchläden campt wie früher vor Konzerten oder dem Apple Store. Jetzt kommen also zeitlich begrenzte Abzeichen dazu.

Zugegeben, ich glaube nicht, dass wir uns gegenseitig die Leseabzeichen zeigen wir früher unsere Panini-Stickeralben. Vielleicht bin ich dafür auch einfach zu alt. Aber erinnert ihr euch noch, wie stolz wir waren, wenn die Panini-Alben vollständig waren (zumindest fast, ich kannte niemanden, der jemals ein volles Album hatte)? Diesem Gefühl jagen wir auch bei den Challenges hinterher. Wir wollen die Vollständigkeit. Die Challenges halten dazu an, sich an ihnen zu orientieren, um diesem Vollständigkeitsgefühl so nahe wie möglich zu kommen.

Zum Glück für alle FOMO-Hasen kann ein Buch für mehr als ein Achievement in dem Zeitraum gelten, da man die Bücher nicht zuordnen muss bzw. die Achievements nicht vorher “aktivieren” muss. Das kann die FOMO etwas lindern, zumindest half es mir, nicht in Panik zu geraten.

Eigene Leseziele auf’s Nebengleis

Jedes Jahr werden nicht nur die Vorsätze für das neue Jahre gefasst, viele Lesende überlegen sich auch, welche Bücher sie lesen möchten. Endlich den dicken Fantasy-Schmöker mit 1000 Seiten, drei Klassiker, vielleicht auch endlich ein Sachbuch.

Zeitlich begrenzte Lesechallenges können von diesen persönlichen Lesezielen ablenken. Zugegeben, ich halte mich nie an meine Lesepläne, weder die jährlichen noch die monatlichen, dafür bin ich zu sehr Mood Reader. Die Challenges können einen aber noch weiter davon abbringen. Sie sind, wie oben bereits geschrieben, auf bestimmte Bücher beschränkt, und wenn ich das Abzeichen haben möchte, muss ich mich an den Listen orientieren.

In diesem Fall ist mein dicker SuB ein Vorteil, denn ich finde auf fast jeder Liste mindestens ein Buch, das auf meinen SuB-Listen ist. Lese ich das Buch dann auch? Naja… Mood Reader, ihr erinnert euch?

Der übersehene Werbeaspekt

Viele der Achievements orientieren sich an der Goodreads Community. Es sind die Gewinner des jährlichen Goodreads Awards, wurden im bisherigen Jahr besonders viel gelesen oder sie haben sehr viele sehr gute Reviews.

Trotzdem fällt auf, dass sich oft die gleichen Bücher auf den Listen tummeln, sofern es thematisch passt. Bücher, die auf Booktok viral gegangen sind, oder Neuerscheinungen von Autor*innen, die dort eine feste Säule sind. Variation hält sich in Grenzen, auch wenn die Listen verschiedene Genres abdecken.

Gerade bei den aktuellen (sprich: in den letzten sechs bis zwölf Monaten veröffentlichten) Büchern sticht heraus, dass sie besonders oft vorkommen. Das ist der Punkt, an dem man nicht vergessen darf, dass Goodreads seit 2013 zu Amazon gehört und somit nicht nur Lesecommunity ist, sondern eben auch Werbeplattform. Ob die Bemusterung der goodreads-Mitarbeitenden mit Leseexemplaren (was normal ist für die Branche) oder die Buchung von Werbeplätzen im Newsletter – Goodreads ist nicht nur Community-driven, und das spiegelt sich in den Listen für die Reading Achievements.

Will ich das Goodreads-Panini-Album eigentlich?

Tablet mit geöffneter Goodreads App auf der Seite eines Leseabzeichens, daneben eine Tasse Kaffee

Ich liebe Gamification. Jeder noch so kleine Dopaminschub wird von meinem ADHS-Hirn mit offenen Armen empfangen, und solche Achievements sind eine kleine Goldgrube.

Mein persönliches Problem wurde diese Woche sichtbar. Ich wollte noch zwei Achievements erreichen und hatte dafür zwei relativ kurze Bücher rausgesucht, beide unter 150 Seiten. Mein innerer Book Goblin hatte allerdings weder auf das eine noch das andere Lust. Als ich daraufhin beschloss, die Abzeichen links liegen zu lassen, fühlte ich mich wie befreit – und habe innerhalb habe innerhalb eines Tages ein Buch durchgesuchtet.

Lesen soll vor mir vor allem Freude, Erfüllung, neues Wissen und andere Sichtweisen bringen. Ich lese, weil ich in andere Welten eintauchen und unsere verstehen möchte, weil ich in andere Köpfe gucken und meinen eigenen einen Augenblick abschalten will. Wenn ich zwischendurch Orden dafür bekomme, umso besser. Aber ich möchte doch lieber meinen eigenen Bedürfnissen nachgehen als irgendwelchen Abzeichen, und wenn das Bedürfnis ist, 50 Mangas in einem Monat zu lesen wie im August, dann werde ich diesem Bedürfnis nachgeben.

Morgen werden die ersten neuen Goodreads Achievements veröffentlicht. Werde ich mir wieder Gedanken machen, welche Bücher ich lesen könnte, um die Abzeichen zu bekommen? Klar! Werde ich mich sklavisch dran halten? Niemals!

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