Titel: The Tattooist of Auschwitz (Affiliate Link) | Autorin: Heather Morris | Verlag: Zaffre | ISBN: 978-1-78576-365-6
Worum geht’s?
Eines der bekanntesten Symbole der Konzentrations- und Vernichtungslager sind die Nummern, die den Gefangenen bei ihrer Ankunft tätowiert wurden. Diese Nummern muss jemand gestochen haben, und dieser Jemand war Lale Sokolov, ein slowakischer Jude. Er kam 1942 nach Auschwitz und wurde durch Zufall erst Assistent des Tätowierers, bevor er selbst dessen Platz einnahm.
In Auschwitz Birkenau lernt Lale auch seine große Liebe und spätere Frau Gita kennen – als er ihre Nummer erneuern soll. Er ist sich sicher, dass er das KZ überleben wird: “I will walk out as a free man. If there is a hell, I will see these murderers burn in it.” (S. 17) Diese Zuversicht versucht er auch Gita zu vermitteln, mit der er eine Liebesbeziehung eingeht. Er verschafft ihr einen besseren Job, versucht sich regelmäßig mit ihr zu treffen und ihr allgemein das Leben im KZ leichter zu machen.
Doch nicht nur Gita profitiert von Lales Position. Durch Schmuggel und Tauschhandel versucht er, den Menschen um sich herum zu helfen, auch wenn es für ihn den sicheren Tod bedeutet, sollte er entdeckt werden.
“I tattoed her number on her left arm, and she tattooed her number into my heart.”
Wie war’s?
Ein Buch zu lesen, das in Auschwitz spielt, ist nahezu immer mit einer emotionalen Achterbahnfahrt verbunden. Bei The Tattooist of Auschwitz ist es noch intensiver, da sich gute Episoden mit verzweifelten abwechseln, fröhliche Szenen werden schnell zu todtraurigen.
In einem Moment springt Lale dem Tod gerade noch von der Schippe nur um zu erfahren, dass dafür ein Freund sein Leben lassen musste. In einem Moment spielt Lale mit internierten Kindern, kurz danach werden sie vor seinen Augen erschossen.
Die Kontraste werde beim Lesen nicht immer sofort deutlich, ganz egal, wie drastisch Morris sie schildert. Sokolov wird zu Mengele gerufen, der ihm immer wieder droht, ihn mitzunehmen und Versuche an ihm zu machen, und sieht schlimm zugerichtete Menschen. Er muss in eine noch nicht geleerte Gaskammer, um die Nummern zweier getöteter Gefangener zu identifizieren. Eine weitere Gefangene wird genötigt, einem der Lagerkommandanten als Geliebte zur Verfügung zu stehen. Und natürlich sieht “der Tätowierer”, wie Freunde und Vertrauenspersonen abgeholt, selektiert und zu den Gaskammern gebracht werden.
Man darf trotzdem nicht vergessen, dass Lale Sokolov zu den “privilegierteren” Insassen gehörte. Natürlich hatte er keine Macht und war für die Nazis im Grunde genauso austauschbar wie alle anderen Gefangenen auch. Allerdings bekam er extra Rationen zu essen, hatte ein Bett für sich allein und wurde allgemein eher in Ruhe gelassen. Diese Privilegien nutze er aus, um anderen so gut es eben ging zu helfen, sei es durch ein Stückchen Wurst oder durch die Verschaffung einer anderen Arbeit innerhalb des Konzentrationslagers. Sokolov versuchte, seine Zuversicht, das Todeslager zu überleben und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen zu sehen, an andere Gefangene weiter zu geben, damit sie nicht ihren Lebenswillen verloren.
Morris versucht, das Grauen des Lebens in dem Konzentrationslager, das der Inbegriff des Holocausts werden sollte, so authentisch wie möglich darzustellen, immerhin sind es Sokolovs Erinnerungen. Dennoch wird vieles davon schlicht überlagert von den Liebesszenen zwischen Lale und Gita, dem freundschaftlichen Austausch zwischen Lale und anderen. Zuweilen hat man das Gefühl, dass sich die Akteure in einem ruppigen Sommerlager für schwer erziehbare Jugendliche Befinden und nicht in Auschwitz-Birkenau. Das klingt unglaublich zynisch, vor allem, weil Morris nirgends das Leben in Auschwitz beschönigt. Ich konnte mich dieses Eindrucks während des Lesens dennoch nicht erwehren.
Vielleicht bin ich aber durch Primo Levis Ist das ein Mensch?, zig Dokumentationen und Sachbüchern zu dem Thema ganz andere Schilderungen gewohnt, für mich ist es so schwer vorstellbar, dass es in den Konzentrationslagern auch andere Momente gab als die der Angst, des allgegenwärtigen Todes und der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Und doch gab es sie. Es gab sie ganz eindeutig, denn Sokolov erzählt davon.
Trotz der kritischen Anmerkungen ist The Tattooist of Auschwitz ein bemerkenswertes Buch, nicht zuletzt, weil es auf einer wahren Geschichte beruht. Lale Sokolov hat Jahrzehnte geschwiegen aus Angst, als Nazi-Kollaborateur verurteilt zu werden. Wie könnte man angesichts der Umstände und der Situation, in der er sich befand? Er tätowierte die Nummern, die den Deportierten den Namen nehmen sollten. Sokolov tat sich schwer mit der Vorstellung, das seinen Mitmenschen anzutun: ihnen den Namen und die Identität zu nehmen. Doch wie sein Vorgänger Pepan erkannte: “If you don’t take the job, someone else with less soul than you will, and hurt these people more.” (S. 34). Und Sokolov nutzte seine Position, um anderen zu helfen. Wer sind wir, darüber zu richten?
The Tattooist of Auschwitz ist wunderbar geschrieben, und oft schafft es Morris Gefühle oder das Leben in Auschwitz in einem Satz oder kurzen Wortwechseln zu kondensieren.
Lale drops to his knees and dry retches. He has nothing to bring up; the only fluid in his body is tears.(S. 128)
*****
“What are you thinking?”
“I’m listening. To the walls.”
“What are they saying?”
“Nothing. They’re breathing heavily, weeping for those who leave here in the morning and do not return at night.”(S. 148)
Auch Sempruns „Was für ein schöner Sonntag“ und Kertesz‘ „Roman eines Schicksalslosen berichten ja von solchen „leichten“ Alltäglichkeiten – was die Leseerfahrung aber nur noch erschütternder macht. Die Frage ist mE immer: Wird eine der Shoa so weit es nur geht angemessene Sprache gefunden, oder erschöpft sich das alles in Schilderung, die die „leichten Alltäglichkeiten“ dann zu Kitsch erstarren lässt?
Ahoi!
Roman eines Schicksalslosen liegt hier noch auf dem Stapel. Sollte ich dann wohl endlich mal angehen.
Die Frage nach der angemessenen Sprache ist interessant. Ich denke nicht, dass man jemals auch nur ansatzweise das Gesamte in Worte fassen kann. Das sieht man schon an den Begrifflichkeiten Holocaust und Shoa 🙂 Jüdische Verfolgte lehnen diesen Begriff ab, weil er Brandopfer bedeutet (also etwas religiös positives), bei Shoa fühlen sich nicht-jüdische Verfolgte nicht eingeschlossen. Bei Romanen, ob nun komplett Fiktion oder auf wahren Geschichten beruhend, ist das noch schwieriger. Aber vielleicht muss man nicht “die eine Sprache” finden…
Mareike
Klingt nach einem wirklich starken Buch! Ich habe gerade Maus beendet und noch zwei weitere Bücher über diese Zeit im Regal, sonst würde ich wohl direkt losziehen und mir das Buch kaufen. So lege ich mir erst einmal ein Lesezeichen und werde mir das Buch im Hinterkopf behalten…
VG Jennifer
Eine wundervolle Rezension und vielen vielen Dankf ür die Verlinkung! Ich fand das gerade so beeindrucken, dass diese eher Alltäglichen, fast schon “frohen” Situatinen dabei waren, dass Menschen es schaffen, sowas zu erleben, in so einer Umgebung, wahnsinn.
Ahoi!
Sicher ist es beeindruckend, aber eben auch…anders als ich es bisher aus der Literatur kenne 🙂